…aktuell rächt sich dies für Mitsotakis und Co. Allein am vergangenen Wochenende gab es im Land 35 größere Demonstrationen gegen die Polizeigewalt und gegen den aktuellen Regierungsstil. In bürgerlichen Wohngegenden und in Pandemiezeiten gingen die Griechen aus Protest und Frust auf die Straße.

Der Premier hat nun auf seinem Youtube-Kanal die Kommentarfunktion abstellen lassen. Auf dem Facebook-Profil des Premiers haben seine Mitarbeiter versucht, negative Kommentare zu löschen. Doch sie wurden der schieren Menge nicht mehr Herr. Ansprachen des Premiers werden im Facebook-Profil veröffentlicht und umgehend hagelt es zehntausende negative Kommentare und statt der „Likes“, auf die jeder Politiker aus ist, drücken die Griechen auf die Missfallen ausdrückenden Emoticons.

Mitsotakis Beliebtheit stürzt ab. Was ist geschehen?

Den Klimaumschwung in der politischen Wetterlage allein an einem Ereignis festzumachen, fällt schwer. Allerdings fällt eine direkte Korrelation eines Ereignisses mit der Häufung des kollektiven Liebesentzugs der Griechen für ihren Premier auf. Am Sonntag, den 7. März schlug in Athen die Polizei zu.

Dies tat sie im wahrsten Sinn des Wortes. Polizisten der DRASI Einheit hatten mitten auf dem Platz von Nea Smyrni zwei Mütter mit ihren Kindern kontrolliert. Deren „Vergehen“ bestand darin, dass sie korrekt mit Masken unterwegs waren und mit der obligatorischen SMS an die Nummer 13033 einen kurzen Spaziergang mit ihren Kindern angemeldet hatten. Sie wohnen direkt am Platz. Sie waren also keineswegs mehr als zwei Kilometer von ihrer Wohnung unterwegs.

Nea Smyrni ist ein ruhiger, bürgerlicher Vorort von Athen. Ein Ort, in dem wie der Name bereits sagt, griechische Flüchtlinge aus dem heute türkischen Izmir (Smyrna) in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts eine neue Heimat fanden. Traditionen und vor allem familiäre Werte werden groß geschrieben. Politisch geschieht hier normalerweise überhaupt nichts Aufregendes.

Die unter Beachtung aller Pandemieregeln vollkommen legal auf dem Platz spazierenden Mütter hatten es gewagt, den Polizisten zu widersprechen. Diese hatten im harschen Befehlston einen Platzverweis erteilt und Bußgelder von jeweils 300 Euro pro Kopf verhängt. Nichts Ungewöhnliches in einem Land, in dem die Polizei bei gleicher Ausgangslage auch an eine Familie, samt dem im Kinderwagen liegenden Säugling Strafzettel über jeweils 300 Euro ausgestellt hat.

Dass - wie ebenfalls in diesen Tagen geschehen - eine greise Frau, die schlicht zum Laden gegenüber ihrer Wohnung gehen will, sich auf einer Polizeiwache wiederfindet, gehört mittlerweile zum griechischen Alltag in CoVid-19 Zeiten. Die Greisin hatte ihre SMS gesetzeskonform abgeschickt, vom zentralen Server die Erlaubnis zum Ausgang erhalten, ihr Telefon und ihr Portemonnaie genommen und das Haus verlassen. Dabei vergaß sie ihren Personalausweis. Was ist wichtiger für eine Polizei, als eine so „kriminelle“ alte Frau in Pandemiezeiten zur Wache zu schleppen, um dort die Personalien zu überprüfen?

Das Bürgertum erlebt seinen „Exarchia Moment“

Unter diesem Vorzeichen mag ersichtlich sein, warum sich Umstehende und Anwohner des Platzes in Nea Smyrni aufregten. Einer ergriff Initiative und stapfte zu den Polizisten, um sie zu fragen, was das denn alles solle. Der beherzte junge Mann kam nicht zum Fragen. Die Polizisten verprügelten ihn brutal unter Einsatz metallischer, eigentlich verbotener Schlagstöcke. Sie riefen ein Großaufgebot von Polizisten zur Hilfe. Das ruhige Nea Smyrni erlebte seinen Exarchia Moment.

In Exarchia, dem Viertel der Autonomen, mitten im Zentrum von Athen, gehören solche Szenen von Polizeigewalt zum Alltag. Anarchisten, Linke und Autonome haben es nicht anders verdient, erklären die Politiker der Regierungspartei alltäglich in Fernsehsendungen. Nea Smyrni ist nicht Exarchia. Hier leben Stammwähler der konservativen Nea Dimokratia.

Sie wurden von der sich hilflos verteidigenden Regierungspartei kurzerhand zu Sympathisanten der Anarchie erklärt. Ohne den Datenschutz zu beachten, gaben Regierungspolitiker im Fernsehen sämtliche Daten zum Prügelopfer preis. Besonderen Wert legten sie darauf, dass der junge Mann nach polizeilichen Erkenntnissen ein Anarchist sei.

Die oft zitierte Volksseele reagierte emotional. Es kam zu einer spontanen Demonstration in Nea Smyrni am Dienstag, den 9. März. Einen Tag nach dem Weltfrauentag ohrfeigten die Polizisten Frauen. Sie traten und schlugen andere Frauen, sie drohten einer festgenommen Achtzehnjährigen eine Gruppenvergewaltigung auf der Polizeiwache an. Dies alles entschuldigten sie mit dem Hinweis auf die politische Gesinnung der Opfer und auf den Widerstand gegen die Polizeigewalt.

Bei der Demo vom 9. März kam es zu einem weiteren, denkwürdigen Vorfall. Normalerweise untereinander verfeindete und aufeinander einprügelnde Fangruppen der großen Sportvereine, vulgo Hooligans, hatten sich ebenfalls zur Demo eingefunden. Eine Motorradstreife fuhr in eine solche Gruppe und warf mit Blendgranaten um sich. Anders als normale Demonstranten reagieren Hooligans auf Gewalt nicht mit Weglaufen, sondern mit brachialer Gewalt. Einer aus der Gruppe stürmte im Sprint auf die Motorradstaffel zu und riss einen der Polizisten vom Sozius. Die übrigen Polizisten suchten ihr Heil in der Flucht. Der zurückgelassene Polizist wurde übel verprügelt. So sehr, dass er ins Krankenhaus musste.

Hier beging der Premier einen entscheidenden Fehler im Detail. Angesichts einer Demonstration in Nea Smyrni - einem Vorfall, der früher noch nicht einmal als Witz durchgegangen wäre - musste er handeln. Mitsotakis wählte den Weg einer Fernsehansprache. In dieser fand er warme Worte für den im Krankenhaus liegenden Polizisten, den er als Mitbürger bezeichnete, und drohende Worte an all jene, die es gewagt hatten zu demonstrieren.

Ein seltsamer Unfall sorgt für Schlagzeilen

Rational betrachtet, könnten die drohenden Worte auch als Angriff auf die Opposition gewertet werden. SYRIZA unter Alexis Tsipras leistet eine eher unterdurchschnittliche Oppositionsarbeit. Sie setzen auf Mitsotakis Scheitern und schlachten Todesopfer der Pandemie, Prügelopfer der Polizei und sonstige Vorfälle in einer eher kannibalischen als konstruktiven Weise aus.

Doch Mitsotakis unterließ es, die Dinge beim Namen zu nennen. Er vergaß, auch die Opfer irregulärer Polizeigewalt als schützenswerte Mitbürger zu bezeichnen. Er verlor kein Wort darüber, wie er offensichtliche Missstände beseitigen möchte. Schlimmer noch, in einer Fragestunde zur Polizeigewalt am Freitag, den 12. März, verunglimpfte er die Opfer noch mehr.

Aus der Tatsache, dass der in seinem Haus von der Polizei verprügelte, politisch liberal konservativ eingestellte Regisseur Dimitris Indares seit zwei Jahren erfolglos darum kämpft als Opfer von Polizeigewalt anerkannt zu werden, schloss Mitsotakis, dass es in diesem, in Griechenland sehr bekannten Fall, keine Polizeigewalt gäbe.

„Vergehen“ von Indares war, dass er in Nachbarschaft zu einem besetzten Haus wohnte. Bei dessen Räumung im Dezember 2019 entwischten die Besetzer. Die Polizei drang daraufhin in Indares Wohnung ein, prügelte diesen und seine Söhne krankenhausreif und hängte ihnen den halben Strafrechtskodex als Anklage an den Hals. Die juristische Odyssee der Familie Indares ist noch nicht vorbei. Die Tatsache, dass die als Hausbesetzer angeklagten Söhne der Familie überhaupt nicht in Athen wohnen, und nur zum fraglichen Tag aus familiären Gründen angereist waren, zählt im griechischen Justizsystem nicht viel. Hier überwiegt die Aussage der Polizisten nicht nur dem Zeugnis von Betroffenen und Anwohnern, sondern auch der Logik.

Mitsotakis Fragestunde im Parlament war ein Affront an parlamentarische Regeln. Denn die Frage an den Premier hinsichtlich der Polizeigewalt hatte Yanis Varoufakis als Vorsitzender der kleinen linken Partei MeRA25 (DiEM25) fristgerecht gestellt. Nach Ablauf der Frist stellte auch Tsipras einen Antrag. Die Kommunistische Partei folgte, und beantragte, dass sich Mitsotakis angesichts der Wichtigkeit des Themas einer großen Aussprache, statt einer einfachen parlamentarischen Frage stellen solle. Mitsotakis entschied sich, auf die parlamentarischen Regeln zu pfeifen. Er erkannte nur die verspätet eingereichte Frage von Tsipras an und lieferte sich am Freitag mit seinem Lieblingsgegner einen rhetorischen Schaukampf.

Zur gleichen Zeit, während im Parlament die Show ablief, kam es am Eingang des Parlaments zu einem Unfall. Ein Dienstwagen fuhr vom Hilton Hotel kommend die Vassilisis Sofias Avenue entlang und bog auf der Höhe des Parlaments verbotenerweise links ab, um auf das Parlamentsgebäude zu gelangen. Gleichzeitig kam vom Gegenverkehr ein Motorradfahrer, dessen Ampel grün zeigte, vom Syntagma-Platz aus. Der Dienstwagen kollidierte mit dem Motorrad, hielt nicht an, und verschwand in der Tiefgarage des Parlaments. Das alles fand am bestbewachten Gebäude des Landes statt. Dort, wo Passanten ohne viel Mühe Dutzende Kameras entdecken können. Dort, wo die Polizei den Eingang des Parlaments penibel überwacht.

Tatsächlich kamen drei Polizisten vom Parlamentsgelände aus auf die Straße und regelten den Verkehr rund um den verunglückten Motorradfahrer. Was sie taten? Einer von ihnen meinte offenbar, dass es eine glänzende Idee wäre, die Augenzeugen des Unfalls zu verscheuchen. Einem von ihnen, einem Kurierfahrer drohte er Strafzettel an, falls er nicht sofort verschwinden würde.

Zu den eher unwichtigen Details der Szene gehört, dass keiner der drei Polizisten einen vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz trug. Griechen ohne politisches Amt der Regierung - oder ohne Uniform - zahlen für so etwas 300 Euro Bußgeld. Die Bürger sehen sich in der Falle. Sie verlieren ihre Jobs, haben kein Einkommen und werden willkürlich mit Strafen belegt.

Der Motorradfahrer, der vorschriftsmäßig einen Helm trug, ist mittlerweile verstorben. Sein Körper wird nur maschinell am Leben erhalten, weil die Eltern seine Organe zur Spende freigaben.

Wer fuhr wessen Fahrzeug?

Mitsotakis kann vorgeworfen werden, dass eine Polizei, die rund um die Vouli der Hellenen, dem „Tempel der Demokratie“ nicht in der Lage ist, einen unfallflüchtigen Fahrer aufzuhalten, ein Problem darstellt. Doch im vorliegenden Fall ist dies das geringere Problem. Denn das Fahrzeug ist auf die Schwester des Premiers zugelassen. Fahrer des Autos der früheren Außenministerin und Bürgermeisterin von Athen, Dora Bakoyianni soll einer ihrer Polizisten gewesen sein. Sie selbst meldete sich erst am Sonntag über soziale Netzwerke zu Wort und drückte ihr Bedauern aus.

Erst nach dem Gang von Bakoyiannis an die Öffentlichkeit gab die Polizei eine Pressemeldung heraus und bat Zeugen des Unfalls, dass sie sich melden sollten. Alle bislang beschriebenen Vorfälle, auch das Verscheuchen der Zeugen durch einen Polizisten, wurden von Passanten auf Videos festgehalten und liefen mittlerweile über die TV-Sender.

Der flüchtige, unbekannte Unfallfahrer hat durch die Verzögerung erreicht, dass er nicht vor ein Schnellgericht gestellt werden kann, weil mehr als achtundvierzig Stunden seit Begehen der Tat vergangen sind. Er hat im Parlament im wahrsten Sinn des Wortes Asyl erhalten.

Die misstrauischen Bürger des Landes wittern indes eine versuchte Vertuschung und es werden die wildesten Gerüchte und Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt. All dies ist für den Premier im Moment zu viel an negativer Publicity.

Sondergenehmigung - Strafzettel und Verbote gelten nur für andere

In den Tagen, als in Nea Smyrni die Bürger selbst bei erlaubtem Verlassen ihres Hauses Strafzettel erhielten, meinte die Gattin des Gesundheitsministers, dass es eine gute Idee wäre, im zentralen Zappeion Park zusammen mit Freunden ein Picknick zu veranstalten.

Für den letzten Affront sorgte jedoch der Vizevorsitzende der Nea Dimokratia, und Minister für Wirtschaft, Adonis Georgiadis. Er postete am Sonntag stolz bei Twitter und Facebook, dass er gerade seinen Jungen Nikolaos getauft habe.

Das Problem bei der Taufe ist, dass es sie gar nicht hätte geben dürfen. In Athen wurden wegen der Pandemie und der stark ansteigenden Infektionszahlen, sowie der Belegung aller Intensivbetten der höchste Alarmzustand für die Pandemieregeln ausgerufen. Zu den verbotenen Aktivitäten gehören Hochzeiten und Taufen.

Kein Problem für Georgiadis. Er berief sich, wieder in den sozialen Netzwerken, auf eine Sondererlaubnis. Eine Sondererlaubnis, die nicht einmal den Kindern Verstorbener für die Teilnahme an deren Beerdigung erteilt wurde.

Als danach der Druck auf ihn zu groß wurde, präsentierte er Scans der angeblichen Erlaubnis. Es handelt sich um ein Papier auf amtlichem Briefbogen mit Stempel und Unterschrift, bei dem jedoch einige Details zu denken geben.

Der Name der Kirche, in der die Taufe stattfand, ist falsch geschrieben. Dass es im Text auch noch zahlreiche grammatikalische und orthographische Fehler gibt und dass eine ansonsten bei amtlichen Schreiben vorgeschriebene Protokollnummer des Schreibens fehlt, sind weitere kleine Details.

Im Schreiben, dessen Formatierung nicht dem Usus griechischer Behörden entspricht, fehlt zudem ein Verweis auf den zugrundeliegenden Antrag. Außerdem ist nicht erwähnt, welche Gesetze und Regeln zur Anwendung kamen, ein absolutes Muss für die Bescheinigungen normaler Bürger.

Georgiadis verweist in seinen Wortgefechten darauf, dass es sehr wichtige familiäre Gründe für die Sondererlaubnis gegeben habe. Er war auch noch, mit Verlaub, so dummdreist, diese Gründe anzugeben. Die Taufe habe stattfinden müssen, so Georgiadis, weil sie vor der Verschärfung des Lockdowns geplant worden war.

Wer, ob in Griechenland oder anderswo, hat denn nicht seine Pläne aufgrund der Pandemie ändern müssen? Die Griechen warten nun darauf, welcher ihrer Minister am nächsten Tag den „größeren Bock schießt“. (Nein, sie sprechen natürlich nicht über einen Bock, wie in der deutschen Redewendung, aber die drastische Sprache wäre nicht druckreif.)

„Was heißt das konkret für mich!?“

Im Text erfährt der Leser, dass nicht nur in Deutschland Gesundheitsminister und weitere Kabinettsmitglieder ihre eigenen Regeln brechen. Es geht zudem um eine immer autokratischer auftretende Regierung, die sich auf massive Polizeigewalt stützt. Recht und Ordnung gelten in dieser griechischen Tragödie immer nur für die anderen.

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